Libica – die libysche Sibylle
Plinius zufolge haben die alten Griechen die Prophetin Libica (alias Phemonoe) ihrer Weisheit wegen Tochter des Apollon genannt. Andere Quellen überliefern Libica als erste Pythia, also als erste jener sagenhaften weissagenden Priesterinnen im Orakel des apollonischen Tempels in Delphi. Dabei ist es auf die kultische Verehrung der Gaia zurückzuführen, dass Apollon nicht durch einen Priester, sondern eben durch die Pythia sprach.
Die bekannteste bildliche Darstellung der Libica, die auch meiner bescheidenen Mimesis (s. Abbildung links) Modell stand, dürfte wohl jene von Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle sein, wo Libica sich gerade umdreht, um den Betrachtern ein hinter ihr liegendes Buch zu reichen. Libica soll nämlich unter anderem auch prophezeit haben, dass der Tag kommen werde, an dem bislang Verborgenes offenbart werden würde.
Das Orakel von Delphi sprach zunächst nur einmal im Jahr, am Geburtstag des Apollon, zu den Ratsuchenden. Das Geschäft mit den Ratlosen und höhere Mächte dürfte aber schon damals derart vielversprechend gewesen sein, dass die Befragung des Orakles an der Kastaliaquelle einige Generationen nach der Ur-Prophetin Libica zu einer regelrechten Institution und vor allem zu einer lukrativen Geldquelle wurde.
Damals wie heute wurden allerdings nur begüterte Klienten individuell beraten und bekamen umfassende, wenngleich oft rätselhafte Antworten. Die Ärmeren mussten hingegen mit einem Binärorakel (Ja-Nein-Orakel) vorlieb nehmen, sie durften also nur Entscheidungsfragen stellen. Die Pythia nahm dann aus einem Behälter mit weißen und schwarzen Bohnen eine von ihnen heraus. Weiß bedeutete Ja, schwarz Nein. So ist es womöglich einer schwarzen Bohne zu verdanken, dass die Sokrates als Weiser in die Geschichte einging … das ist aber eine andere Geschichte.
Indes dürfte Libica sich nicht mit Bohnen abgegeben haben, sondern sich noch auf echte Prophetie verstanden haben. Dazu gehörte neben einer gesunden Kritik an den herrschenden Zeitgenossen und Verhältnissen vor allem die Verkündigung von göttlichen Botschaften.
Weil Libica keinen dem Thema angemessenen Sprachstil vorgefunden hat, dürfte sie der Überlieferung zufolge den Hexameter erfunden haben, jenes Versmaß, das später in der epischen Dichtung das klassische Maß werden sollte.
Kein geringerer als Aristoteles schreibt Libica sogar die Prägung der Spruchweisheit Erkenne dich selbst zu. Der Spruch ist, wie die anderen delphischen Orakelsprüche auch, zumindest zweideutig. Denn zum einen ermahnt die Pythia uns Menschen, dass wir erkennen mögen, NUR Menschen zu sein. Andererseits aber fordert sie uns zur Selbsterkenntnis auf, was wiederum impliziert, dass der Mensch grundsätzlich zur (Selbst-)Erkenntnis fähig sein muss, der Mensch also – wie es in der späteren Geschichte der Philosophie heißt – über die nötige Vernunft verfügt, „vernunftbegabt” ist. Die Aufforderung impliziert außerdem, dass jede(r) (sich) selbst und auf jeweils eigene Weise Erkenntnis gewinnen muss. Andernfalls bleibt man auf die (keineswegs einhelligen) Meinungen von „Denkexperten” angewiesen.
So lässt sich die heute in weiten Kreisen leider vergessene Prophetin Libica als nichts weniger als eine Personifikation der Einheit von Denken und Dichten verstehen, womit sie auch den Geist der edition libica repräsentiert. Die edition libica pflegt Philosophie UND Literatur und setzt so allgemein dem gängigen Entweder-Oder-Denken eine beherzte Sowohl-Als-Auch-Gesinnung gegenüber.